Was ist Hellenistische Astrologie ?

"La scuola di Atene" Fresko von Raffael, 1510-1511

aus: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:La_scuola_di_Atene.jpg

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Der Zeitraum für die Periode der Hellenistischen Astrologie ist zeitlich nicht genau einzugrenzen. Die kulturellen Einflüsse des Hellenismus reichten weit über diesen Zeitraum hinaus, womit mit dem Begriff „hellenistisch“ eher ein Kulturraum gemeint ist, denn ein historischer Zeitraum.
Mit dem Tod Alexanders des Großen 323 v. Chr. lassen die Historiker seit Droysen das Zeitalter des Hellenismus beginnen, die drei Jahrhunderte währende Epoche der Ausbreitung griechischer Kultur über den ganzen Mittelmeerraum, in der eine überall verbreitete Spielart des Griechischen zur gemeinsamen Verkehrssprache in vielen Ländern wurde; deshalb hieß sie auch „koiné“, die „Gemeinsame“. In der Koine, dem Englischen der hellenistischen Welt, ist noch das Neue Testament geschrieben.1

Robert Hand: „Alle ägyptischen Texte, auf die in der späteren Literatur Bezug genommen wird, scheinen in Griechisch geschrieben zu sein. Möglicherweise waren einige Übersetzungen aus dem Koptischen. Der Gebrauch des Griechischen hatte wichtige Konsequenzen. Auch wenn das persische Reich ein wahrlich kosmopolitisches Reich war, mit einer beachtlichen Gleichheit unter den Völkern, die das Reich ausmachten, so war doch keine Sprache vorherrschend. Zweifelsohne wurde das Persische für offizielle Zwecke benutzt, aber das Babylonische und das Ägyptische wurden weiterhin in ihrem eigenen Sprachraum dem Persischen vorgezogen. Doch als Alexander der Große ganz Persien und Ägypten eroberte und bis in den Nordwesten Indiens vorstieß, wurde das Griechische die dominante Sprache, nicht nur für offizielle Anlässe, sondern für jeden Zweck, der eine Kommunikation von einem ethnischen Gebiet zu einem anderen beinhaltete. Die ursprünglichen Sprachen blieben lokal in Gebrauch, wie das Aramäische (welches das Babylonische vollständig ablöste) und das Koptische. Ein Gelehrter oder Reisender konnte überallhin reisen, von Griechenland im Westen nach Indien im Osten und Ägypten im Süden, und wurde überall verstanden. Jede Idee, die in Griechisch ausgedrückt wurde, konnte eine vergleichbare Reichweite haben.
Sogar nach dem persischen Wiedererstarken beginnend mit den Parthern und später mit den Sassaniden  hatten die baktrischen Völker dort, wo jetzt Afghanistan und Pakistan sind, weiterhin griechisch sprechende Herrscher bis in die ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Folgerichtig konnten die babylonischen Methoden in der ägyptischen Astrologie und die ägyptischen Methoden selbst ohne jede Schwierigkeit leicht nach Indien gelangen. Dies erklärt die Tatsache, dass alle Fachbegriffe der indischen Astrologie, die sich in eine andere Sprache zurückführen lassen, Griechisch sind, und nicht Babylonisch, Koptisch oder Früh-Ägyptisch.“2

Hellenistische Astrologie umfasst also ungefähr jenen Zeitraum vom Tod Alexanders d. Großen 323 v. Chr. bis zum Tod Mohammeds 632 n. Chr., umspannt also auch die gesamte Periode des Römischen Reiches.

Hellenistische Astrologie entstand (vermutlich) in einem sehr kurzen Zeitraum

Mit Hellenistischer Astrologie ist also jene Astrologie gemeint, die im hellenistischen Kulturraum – zwischen Ägypten und den Mittelmeerregionen – zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und dem 6. Jh. n. Chr. auftauchte. Interessant dabei ist, dass ihre Kernelemente innerhalb von ca. 50 bis 100 Jahren fertig ausgebildet waren. Ebenso lässt sich die Mehrheit ihrer Konzepte, Techniken und Interpretationstechniken nicht auf frühere Quellen zurückführen.

Damit stellt die Hellenistische Astrologie seit ihrem Auftauchen eine ganz eigenständige und originale Astrologie dar, die kaum auf babylonischen und ägyptischen Quellen aufbaute. Diese werden zwar hin und wieder erwähnt, aber kaum benutzt.
Sie markierte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung einen völligen Neubeginn in der Geschichte der Astrologie. Ebenso hinterließ sie auch deutliche Spuren in der indischen Astrologie (Vedische Astrologie).

Robert Hand: „Auf jeden Fall ist es ziemlich wahrscheinlich, dass der ganze Apparat der horoskopischen Astrologie um das Jahr 1 n. Chr. beisammen war, möglicherweise einige Jahrhunderte früher. Eines der Dinge, die wir im Laufe unserer Studien über die späteren griechischen Autoren herausgefunden haben ist, dass auch diese schon mit einer späten Ära der Astrologie zu tun haben. Auch sie haben schon ihre "Alten" und beginnen, einige der alten Lehren miss zu verstehen. Einer dieser Autoren, Vettius Valens, reiste auf der Suche nach Meistern der alten Traditionen durch Ägypten, ganz ähnlich, wie moderne Amerikaner nach Indien reisen, um Astrologie und verschiedene sakrale Lehren zu studieren. Während die meisten griechischen Schriftsteller Bücher studiert zu haben scheinen, lernte Valens zumindest bei einigen noch lebenden Lehrern der alten Traditionen. Und aus seinem Werk wird deutlich, dass vieles von dem, was sie lehrten, niemals niedergeschrieben worden wäre, hätte er es nicht getan.“3

Der amerikanische Astrologe Robert Schmidt ist der Meinung, dass Hellenistische Astrologie nicht als empirische Wissenschaft entwickelt wurde, sondern dass sie ihre Basis auf vielen zusammenhängenden Konzepten hat. Zudem entbehrt eine Reihe von hellenistischen astrologischen Faktoren jeder astronomischen Grundlage. Man kann sie weder am Himmel beobachten noch in Ephemeriden nachschlagen. Man denke hier beispielsweise an die Lospunkte (partes) und die Grenzen (terms). Daraus folgt, dass die Existenz solcher astrologischer Faktoren nur aus einem Konzept, einem philosophischen Konstrukt, einer Vision erklärt werden kann. Hellenistische Astrologie ist ein rationelles, philosophisches Konstrukt, möglicherweise inspiriert durch Einsichten in einen kosmischen Prozess. (Hermes Trismegistos?)4

Ganzzeichen- Häusersystem

In allen hellenistischen und frühen mittelalterlichen Quellen kommt deutlich zum Ausdruck, dass hauptsächlich das Ganzzeichenhäuser- System (GZH) verwendet wurde. So behauptet Robert Schmidt, dass Vettius Valens in seiner „Anthologie“, von 2 Ausnahmen abgesehen, durchgehend das GZH- System benützt. Bei den Ausnahmen teilte er die Ekliptik-Abschnitte zwischen den Achsen in 3 gleich große Teile, um die Kraft der Planeten zu messen (Dynamisches Häusersystem, das über die Kraft des Planeten informiert). Dieses System wurde später Porphyrius- System genannt. Niemals hatte er dabei die Absicht, ein neues Haussystem zu kreieren, was die späteren Astrologen bis in die Moderne gründlich missverstanden und den sinnlosen Häuserstreit hervorrief.
Topische und dynamische Häuser zusammen zu deuten ist für viele klassisch arbeitende Astrologen zu einer zusätzlichen Bereicherung des Deutungsinstrumentariums geworden.

Das GZH- System ist sehr einfach. Jenes Zeichen, in das der berechnete Aszendentengrad fällt, ist das erste Haus, das ganze nächste Zeichen wird zum zweiten Haus, usw. Die Zeichen, die von den Hellenistischen Astrologen also gleichzeitig als Häuser gesehen wurden, nannten sie „topoi“ = Plätze. Ihnen wurden bestimmte Themen zugeordnet, die sich bis heute – aber nur teilweise – erhalten haben. Entsprechend der Tagesbewegung des Tierkreises werden sie im Uhrzeigersinn durch das Horoskop bewegt – die primäre Tagesbewegung, verursacht durch die Drehung der Erde um ihre eigene Achse in 24 Stunden. Dagegen bewegen sich die Planeten entgegen dem Uhrzeigersinn durch den Tierkreis, was die sekundäre oder zodiakale Bewegung genannt wird.

Ein Beispiel: „Planeten im 11. Haus bewegen sich zodiakal vom 10. Haus weg, aber werden durch die primäre Tagesbewegung ins 10. Haus zurückgetragen. Der Geborene zieht in die Welt und sucht dort Unterstützung für seine Arbeit (Haus 10). Er sucht sich Schirmherren und Sponsoren. Aus diesem Grund werden nur die einflussreichen Freunde diesem Haus zugeordnet, während die intimeren Freunde, die man zu Hause empfängt und mit denen man ein Glas Wein trinkt, dem 3. Haus angehören.
Ein weiteres Beispiel: Im 9. Haus bewegen sich die Planeten zodiakal in Richtung Haus 10 und werden durch die primäre Tagesbewegung wieder aus Haus 10 ins 9. Haus zurückgetragen. Die Priester und Könige (Haus 9) klopfen bei dem Geborenen an und verlangen Opfer für die Götter und Steuern. Der Geborene reist zu einem Tempel oder Heiligtum, konsultiert ein Orakel, lässt sich von Priestern seine Träume erklären, lernt andere Sitten, andere Kulturen kennen und erweitert seinen Horizont in vielerlei Hinsicht.“5
Das GZH- System wird heute noch in der Vedischen (Indischen) Astrologie verwendet. Aber immer mehr klassische Astrologen integrieren dieses Häusersystem in ihre Deutungsarbeit und experimentieren damit.

Die hellenistische Aspektlehre

Die hellenistische Aspektlehre unterscheidet sich stark von den modernen Auffassungen. Der heutige Begriff „Aspekt“ kommt vom Lateinischen „adspicio“, was „ ansehen, schauen nach“ bedeutet. Erst im Mittelalter taucht „Aspekt“ als Fachbegriff zum ersten Mal auf. Die älteren Quellen verwendeten dafür etwas andere Begriffe wie „bezeugen“ oder „beobachten“. In der Hellenistischen Astrologie arbeitete man mit Ganzzeichenaspekten, also Aspekte per ganzen Zeichen.
Zeichen, die einander „sehen“ befinden sich entweder im gleichen Zeichen, (Konjunktion) oder in Zeichen, die 60° (Sextil), 90° (Quadrat), 120° (Trigon) oder 180° (Opposition) voneinander entfernt sind. Sie können füreinander „bezeugen“ (was sich in ihren jeweiligen Zeichen/Orten abspielt). Orben spielen hierbei keine Rolle!
Zeichen, die 30° oder 150° voneinander entfernt sind, „sehen“ einander nicht und können auch nicht füreinander „bezeugen“. Man kann nur etwas bezeugen, was man sieht. Sie stehen zueinander in Aversion, sind disjunkt (Lat. aversio= abwenden) und bilden keinen Aspekt.
Aspekte jenseits der Zeichengrenze gibt es nicht. D.h. ein Planet auf 29° Fische bildet mit einem Planeten auf 1° Widder keine Konjunktion. Es galt auch die Auffassung, dass es für einen Planeten besser sei, mit den Übeltätern Mars und Saturn überhaupt keinen Aspekt zu haben.

Hellenistische Astrologie: Die Grundlage der gesamten westlichen Astrologie

Hellenistische Astrologie entwickelte sich in Folge zweier herrschender philosophischer Einflüsse, und koppelte die wissenschaftlichen und logischen Lehren des Aristoteles an den Neoplatonismus und die Lehren der Stoiker. Seit ungefähr 150 v. Chr. kamen zu diesen zwei wichtigsten heidnischen philosophischen Einflüssen der Gnostizismus und insbesondere der religiös- wissenschaftliche Hermetismus dazu. Alle diese Faktoren trugen zur Entwicklung der späteren Arabischen Periode bei, die ca. ab dem 12. Jh. das Fundament für die mittelalterliche westliche Astrologie bildete.
Robert Hand: „Die Astrologie der arabischen Zeit hat der hellenistischen Astrologie viel zu verdanken. Und es ist auch klar, dass in den zwei oder drei Jahrhunderten zwischen den letzten bekannten hellenistischen und den ersten bekannten arabischen Astrologen eine neue Strömung hinzukam. Dies war wahrscheinlich der persische Strang der Astrologie. Und die arabische Astrologie ist der unmittelbare Vorgänger der westlichen Astrologie von heute. So könnte unsere Astrologie tatsächlich der Nachfolger dieser dritten Strömung der antiken Astrologien sein.“3
Die Hellenistische Astrologie kann somit als die Grundlage der gesamten westlichen Astrologie bezeichnet werden.

Project Hindsight: Ein beispielloses Übersetzungsprojekt

Project Hindsight in den USA (gegründet 1993) ist ein Unternehmen, das beabsichtigt, den vollständigen Korpus der erhaltenen griechischen Astrologie sowie der mittelalterlichen lateinischen Tradition zu übersetzen. Dazu kommen noch Übersetzungen aus dem Hebräischen, dem Sanskrit und aus dem Arabischen.
Robert Hand: „Ich glaube behaupten zu können, dass unser kollektives Werk die größte Sammlung an Material zur Astrologiegeschichte darstellt, die zur Zeit in englischer Sprache existiert. Und deswegen glaube ich auch, dass wir wissen, wovon wir sprechen, auch wenn wir möglicherweise auf der Grundlage dessen, was weitere Forschung zu Tage bringen wird, unsere Ansichten revidieren müssen.“3
Die überlieferten Texte aus der hellenistischen Ära sind in großer Zahl erhalten und zumeist in altgriechischer Sprache, einige wenige auch in Latein verfasst. Darunter die bekannten Werke, wie Tetrabiblos von Ptolemäus, die Anthologie von Vettius Valens, die Astronomica von Manilius, Apotelesmatics von Hephaistio und die Mathesis von Firmicus Maternus. Weiters Werke von Dorotheus von Sidon, Paulus Alexandrinus, Porphyrius.

Die überwiegende Mehrheit der Texte ist der Geburtsastrologie gewidmet (natal astrology), eine beträchtliche Menge umfasst Mundan- Astrologie (mundane astrology) und ebenso Elektions- und Ereignis- Astrologie („electional“ and „event“ astrology). Die Frage, ob hellenistische Astrologen Stundenastrologie praktizierten, ist bis heute offen.6

Elke Jurasszovich, Oktober 2009
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Zitate:

1 Klaus Held: Treffpunkt Platon – Ein philosophischer Reiseführer durch die Länder des Mittelmeers, Reclam 2001
2 Robert Hand: Die Geschichte der Astrologie - Eine andere Sichtweise, Teil 3; Deutsche Übersetzung von Franz Isfort (www.astrologix.de)
3 ebenda
4 Martien Hermes: “Goede tijden, slechte tijden“, p.7, Eigenverlag, Zeist 2008
5 Erik van Slooten: „Klassische Radixastrologie – Ein Lehrgang zum Selbststudium“ – 2009
6 Hellenistic Astrology: An Overview, Artikel von Robert Schmidt, auf http://www.projecthindsight.com/index.html

7 Martien Hermes: "Die Lebenslinie im Horoskop", Chiron Verlag (Ein Werk über Zodiakale Aphesis, Übersetzung vom Niederländischen ins Deutsche: Elke Jurasszovich)

Zur weiteren Vertiefung zum Thema empfehle ich:
-Website: www.projecthindsight.com
-Erik van Slooten: „Klassische Radixastrologie – Ein Lehrgang zum Selbststudium“ - erscheint demnächst im Chiron Verlag!!
-Rafael Gil Brand: „Lehrbuch der Klassischen Astrologie“, Chiron Verlag 2000
-Robert Hand: "Traditionelle Astrologie" (Tübingen, 2007, Chiron Verlag )
Chris Brennan: "Hellenistic Astrology - The study of Fate and Fortune", Amor Fati Publications, Denver/Colorado

 

©Elke Jurasszovich, 2010